
Wie ich als Fluthelfer das Wunder im Ahrtal hautnah miterlebte
Nass bis auf die Haut und schlammig bis zum Hals stand ich am Flussufer. Die körperliche Anstrengung war deutlich zu spüren. Doch ein Gefühl tiefster Zufriedenheit entschädigte für alle Mühen. Damals wusste ich noch nicht, welch unglaubliches Wunder ich als Helfer im Ahrtal erlebt hatte.
Wenige Wochen zuvor war das Unfassbare geschehen. Aufgrund einer ungewöhnlichen Wetterlage kam es in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zu sintflutartigen Regenfällen. In der Folge führten viele Flüsse und Bäche enormes Hochwasser. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 kam es dann in mehreren Regionen zu verheerenden Überschwemmungen. Insbesondere entlang der Ahr forderten die Flutwellen zahlreiche Todesopfer und verursachten beispiellose Zerstörungen an Infrastruktur und Landschaft.
Wie ich von der Flutkatastrophe erfahren habe
Die Fernsehsender zeigten schreckliche Bilder aus den Katastrophengebieten. Schnell wurde mir klar, dass Deutschland die größten Zerstörungen der Nachkriegszeit erlitten hatte und die notleidenden Menschen dringend Hilfe brauchen würden. Dann sah ich im Fernsehen eine Sondersendung über die Ereignisse nach der Katastrophe. Ein Männerchor sang auf der Straße und junge Menschen räumten fröhlich ihre schwer beschädigten Häuser auf. Ich war irritiert von dieser Berichterstattung und suchte im Internet nach verlässlicheren Informationen. Dabei stieß ich auf Markus Wipperfürth, einen engagierten Landwirt aus Puhlheim, der unmittelbar nach der Flutkatastrophe ins Ahrtal kam, um zu helfen. Mit seinen Live-Videos in den sozialen Medien machte er immer wieder auf die schwierige Situation vor Ort aufmerksam und rief zur Unterstützung der notleidenden Menschen auf.
Herz und Verstand sprachen nicht dieselbe Sprache
Einerseits wollte ich am liebsten sofort ins Ahrtal fahren und mit anpacken, andererseits war ich als Selbstständiger in einer herausfordernden Situation. Schließlich konnte ich weder bezahlten Urlaub nehmen noch meine Arbeit von anderen erledigen lassen. Zudem wurde immer wieder auf die drohende Infektions- und Unfallgefahr hingewiesen, so dass eine längere Ausfallzeit meine wirtschaftliche Existenz gefährden könnte. Da ich ahnte, dass der Wiederaufbau des Ahrtals viele Jahre dauern würde, traf ich zunächst eine vernünftige Entscheidung und verschob meinen Hilfseinsatz. In der Zwischenzeit informierte ich mich regelmäßig bei Markus Wipperfürth und das hatte Folgen. Je mehr ich über die Situation im Ahrtal erfuhr, desto größer wurde mein Wunsch, den Menschen dort zu helfen.
Die Initialzündung für meinen Hilfseinsatz
Inzwischen waren sechs Wochen seit der Flutkatastrophe vergangen. Erneut erreichte mich eine Videobotschaft von Markus Wipperfürth. Darin bittet er um Mithilfe bei einer groß angelegten Aufräumaktion entlang der Ahr zwischen Heimersheim und Ehlingen. Ziel sei es, gemeinsam mit dem K.R.A.K.E. (Kölner Rhein-Aufräum-Kommando-Einheit) e. V. den angeschwemmten Unrat in den Ahrauen zu beseitigen. Mir gefiel die geplante Aktion, weil sie sowohl den Menschen helfen als auch die Umwelt schützen würde. So hörte ich auf die Stimme meines Herzens und beschloss, mich der Gruppe anzuschließen.
Das Hochwasser der Ahr verursachte erhebliche Schäden an der Autobahn 571 bei Heimersheim.
Mein erster Tag als freiwilliger Helfer im Ahrtal
Es war der letzte Augusttag, ein kühler, verregneter Sonntag, der seinem Namen keine Ehre machte. Um 6 Uhr morgens erlöste mich der Wecker von einer unruhigen Nacht mit wenig erholsamem Schlaf. Nach der Morgenroutine packte ich ein paar Sachen und etwas Proviant in meinen Rucksack. Dann fuhr ich mit dem Auto zum Helfer-Shuttle nach Grafschaft-Ringen, von wo aus die Hilfseinsätze koordiniert wurden. Während der Fahrt gingen mir wieder die Gedanken durch den Kopf. Ich dachte daran, dass ich alleine auf dem Weg in ein Katastrophengebiet war, in eine unbekannte Umgebung mit hunderten fremden Menschen. Was würde mich dort erwarten? Trotz einiger Zweifel vertraute ich meinem Bauchgefühl, das mir sagte, dass ich das Richtige tun würde. Und so fuhr ich entschlossen Kilometer um Kilometer ins Ungewisse.

Zahlreiche Helfer waren bereits beim Helfer-Shuttle eingetroffen.
Ankunft beim Helfer-Shuttle in Grafschaft-Ringen
Nach einer zweistündigen Autofahrt erreichte ich das Helfer-Shuttle. In seinem Basislager tummelten sich bereits viele Frauen und Männer jeden Alters. Sie waren von überall her angereist, aber nicht alle, um die Ahrauen zu säubern, sondern auch, um in den beschädigten Häusern Stemmarbeiten durchzuführen. Um mehr über den Ablauf der geplanten Aufräumaktion zu erfahren, ging ich zuerst zum Infostand. Danach erkundete ich bei einem Rundgang das Basislager und lieh mir im Ausrüstungszelt Sicherheitsstiefel und Schutzhandschuhe aus.
Kurz darauf ertönte die fröhliche Stimme von Thomas Pütz aus einem Lautsprecher. Der Mitbegründer des Helfer-Shuttles gab eine ausführliche Einweisung in die Aufräumaktion. Danach stieg ich mit anderen Helfern in einen der bereitgestellten Gelenkbusse. Auf der Fahrt ins Einsatzgebiet sah ich unvorstellbare Schäden an Gebäuden, Fahrzeugen, Straßen und der Eisenbahn. Ich hatte schon viele Fotos und Videos von den Zerstörungen gesehen, aber kein Medium konnte dieses Ausmaß realistisch darstellen. Ich war ergriffen von der Naturgewalt und dachte an die vielen Menschen, die so schwer getroffen wurden. Inzwischen waren wir im Einsatzgebiet angekommen.

Die Aufräumarbeiten erstreckten sich weit entlang des rechten Ahrufers
Meterhohe Anschwemmungen erschwerten die Aufräumarbeiten
Unsere Aufgabe bestand darin, möglichst viel Unrat aus dem Schwemmgut zu bergen und entlang eines Zufahrtsweges aufzutürmen, um es später mit landwirtschaftlichen Maschinen abtransportieren zu können. Schließlich sollten Raupenbagger das angeschwemmte Treibholz auseinanderziehen, damit es von Fachleuten zersägt und gehäckselt werden konnte. Soweit der Plan, doch was uns dann erwartete, hatte wohl niemand erwartet.
Die Flutwellen hatten riesige Bäume entwurzelt und zusammen mit geborstenem Bauholz, dem Hausrat der Ahrtalbewohner und großen Mengen Müll meterhoch verkeilt. Eine Gefahr für die Umwelt stellten die allgegenwärtigen Kunststoffteile dar. Von kleinen Flaschenverschlüssen über Mülltonnen bis hin zu IBC-Tanks waren sie in allen Formen und Größen vorhanden. Hinzu kamen Behälter mit Chemikalien, Farben und Ölen sowie Autoreifen und diverse Elektrogeräte. All diese menschlichen Errungenschaften konnten der Kraft des Wassers nicht standhalten und wurden von den Flutwellen mitgerissen. Glücklicherweise gab es keine Hinweise auf leblose Körper.

Viele der entwurzelten Bäume haben sich ineinander verkeilt.

Von den Anschwemmungen ging eine hohe Verletzungsgefahr aus.
Mit vereinten Kräften wurde Großes bewegt
Zuerst sammelten wir den lose herumliegenden Müll in Säcken ein. Es dauerte nicht lange, bis viele volle Müllsäcke auf dem Zufahrtsweg lagen. Für den Schwemmmüll war jedoch eine andere Vorgehensweise notwendig. Wie die Ameisen bildeten wir spontan kleine Helfertrupps. Während die einen auf die Anschwemmungen kletterten und den Unrat mühsam herauszogen, trugen die anderen Helfer die Fundstücke zum Zufahrtsweg. Immer wieder wurden große Gegenstände gefunden, die tief im Flussgeschiebe steckten. Wenn jemand Hilfe bei der Bergung brauchte, taten sich spontan mehrere Helfer zusammen und packten gemeinsam an. Mit vereinten Kräften konnten auch größere Fundstücke von Hand geborgen werden. Schritt für Schritt arbeiteten sich die Helfergruppen so durch die Auenlandschaft.

Die zerstörte Fußgängerbrücke über dem Mühlenteich
7 Meter über dem Flussbett der Ahr - eine Überraschung!
Zur Mittagszeit erreichte ich ein Waldstück in der Nähe der Autobahn 571 bei Ehlingen. Im dichten Gebüsch war bereits ein kleiner Trupp von Helfern dabei, haufenweise Glasflaschen aus einer großen Anschwemmung zu bergen. Ich schloss mich diesem Trupp an und trug die Flaschen in herumliegenden Getränkekisten zur Zufahrtsstraße. Durch das Waldstück zog sich ein bewachsener Erdwall, vermutlich ein alter Schutzdamm, dessen aufgeweichter Boden rutschig wie Schmierseife war. Ein Helfer kämpfte sich den Erdwall hinauf, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite befand. Kaum hatte er die Kuppe erreicht, rief er: „Ich brauche hier oben Verstärkung!“
Als auch ich oben auf dem Erdwall ankam, staunte ich nicht schlecht. Wohin ich auch schaute, überall lagen leere Getränkekisten herum, es waren Hunderte. Die Getränkekisten hingen zum Teil deformiert im dichten Geäst oder steckten knöcheltief im Schlamm. Irgendwie sah das Waldstück aus, als hätten die Kinder von Riesen nach dem Spielen ihre Legosteine zurückgelassen. Getränkekisten dominierten, aber auch Mülltonnen und andere Plastikgegenstände waren unter den Fundstücken. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mich geschätzt etwa 7 Meter über dem Flussbett der Ahr befand. Wie gewaltig müssen die Flutwellen gewesen sein, die über den Damm geschwappt sind?
Die Menschenkette für effiziente Bergungsarbeiten
Die dichte Vegetation und die knöcheltiefe Schlammschicht im Wald entlang des Dammes erschwerten die Bergung der Getränkekisten enorm. Der zähe Schlamm haftete schwer an den Stiefeln und ich musste aufpassen, dass ich beim nächsten Schritt nicht der Länge nach auf dem Waldboden landete. Jedes Mal, wenn wir einen großen Haufen Getränkekästen gesammelt hatten, mussten diese über weite Strecken aus dem Wald getragen werden. Dazu bildeten wir mit anderen Helfern eine Menschenkette und warfen uns die Kästen im hohen Bogen zu. In kräftezehrender Handarbeit stapelten wir etliche Kisten auf dem Zufahrtsweg unterhalb des Erdwalls. Weitaus mehr Getränkekisten legten wir am Rande der nahegelegenen Autobahn ab, die wegen der starken Beschädigungen für den Verkehr gesperrt war.

Eine kleine Auswahl des angehäuften Unrats am Zufahrtsweg
Eine überraschendes Treffen mit dem Mentor
Inzwischen war es 17:50 Uhr, als ich beim Helfer-Shuttle aus dem Bus stieg. Im Basislager herrschte bereits reges Treiben. Viele Helfer waren schon vor mir von ihren Einsätzen zurückgekehrt und die meisten waren genauso dreckig und nass wie ich. Ich fröstelte in meiner nassen Arbeitskleidung, also ging ich zum Auto und zog mir auf dem Parkplatz trockene Ersatzkleidung an. Dann ging ich zurück zum Basislager, gab die geliehenen Sicherheitsstiefel zurück und aß das leckere Abendessen, das für die Helfer vorbereitet worden war.
Durch Zufall sah ich unter den vielen Menschen Markus Wipperfürth. Ich freute mich über das Treffen, denn er war es, der mich durch sein Engagement für das Ahrtal zum Helfen motiviert hatte. Umso mehr wünschte ich mir ein gemeinsames Erinnerungsfoto.

Markus Wipperfürth und Frank Kaiser beim Helfer-Shuttle
Eine legendäre Abendandacht für die Helfer im Ahrtal
Zum Abschluss der Aufräumaktion hielt Thomas Pütz vom Helfer-Shuttle eine seiner legendären Abendandachten, in der er über die Ereignisse des Tages berichtete. Es stellte sich heraus, dass insgesamt 230 Frauen und Männer an der Aufräumaktion in den Ahrauen teilgenommen hatten. Tonnenweise wurde umweltschädlicher Unrat aus der Landschaft geborgen. Obwohl schon während der Aktion mehrere große Containerladungen zur Deponie gefahren wurden, konnte der Unrat noch nicht vollständig abtransportiert werden. Mit solchen Mengen hatte niemand gerechnet, umso erfreulicher war es, dass trotz der vielen Gefahren niemand zu Schaden kam. Ein Video der »Abendandacht« (ab Minute 13) wurde auf YouTube zur Verfügung gestellt.
Nach der Abendandacht fuhr ich noch 2 Stunden nach Hause. Erst um 22:00 Uhr schloss ich die Haustür hinter mir. Damit war mein erster Hilfseinsatz im Ahrtal beendet. Bevor ich unter die Dusche verschwand, erzählte ich meiner Frau Andrea noch kurz von meinen Erlebnissen. Wenig später kroch ich müde unter die Bettdecke und ahnte schon, dass ich diesmal tief schlafen würde. Am nächsten Morgen begann ich, das Erlebte zu verarbeiten. Dabei wurde mir bewusst, welch unglaubliches Wunder ich im Ahrtal hautnah miterleben durfte.
Das Wunder im Ahrtal
Ich kam mit Bewohnern des Ahrtals ins Gespräch und sie erzählten mir, wie sie die Hochwassernacht erlebt hatten. Ihre Schilderungen ließen schreckliche Bilder in meinem Kopf entstehen. Eines war klar: Die Flutkatastrophe hat für die betroffenen Menschen großes Leid gebracht. In einer solchen Situation Zuversicht und Lebensmut zu bewahren, schien für viele Betroffene unmöglich. Und dann geschah das Unglaubliche.
Nach der Flutwelle rollte wie aus dem Nichts eine Welle der Solidarität heran. Immer mehr Unternehmen und Privatpersonen kamen aus ganz Deutschland und dem Ausland, um den Menschen in den Hochwassergebieten zu helfen. Von dem in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Neid und der Feindseligkeit waren nichts mehr zu spüren. Plötzlich war es egal, woher man kam, welcher Religion man angehörte oder welchen sozialen Status man hatte. Frauen und Männer jeden Alters arbeiteten längst Hand in Hand, während die staatliche Hilfe schleppend anlief.
Was für die Menschen zählte, waren Nächstenliebe und Zusammenhalt. Helfer und Betroffene einte stets ein Ziel: Sie gaben ihr Bestes, damit das Ahrtal schnell wieder aufblühen konnte. Neben den vielen privaten Geld- und Sachspenden verschenkten viele tausend Menschen bereitwillig etwas von ihrer kostbarsten Habe: LEBENSZEIT.
Für mich war das nicht der einzige Hilfseinsatz im Ahrtal. Was ich sonst noch erlebt habe, erfährst du in der Fortsetzung:
Die Rückkehr der Helfer ins Ahrtal: Zwischen Aufräumarbeiten und Weinlese
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