Naturerlebnis am wilden Oberlauf der Nidda
Kennst Du das auch? Es gibt Orte, die ziehen einen magisch an. Für Fliegen mag das der pralle Hintern einer Kuh sein. Für mich befindet sich solch ein Ort im Osthessischen Bergland, genauer gesagt im »Geopark Vulkanregion Vogelsberg«. Dort entspringt die Nidda. Das ist ein kleiner Fluss, der bei Schotten den Niddastausee füllt und nach 90 km Fließlänge bei Frankfurt-Höchst in den Main mündet. Meine besondere Aufmerksamkeit gilt dem Oberlauf von der Quelle bis zum Ort Rudingshain. Dort fließt die Nidda als natürlicher Bergbach durch eine wildromantische Landschaft mit rund 300 m Höhenunterschied.
Lass mich dir nun von einem Wandertag erzählen, den ich dort erlebte. Es war ein Sonntag im Juni, der seinem Namen alle Ehre machte. Bereits am frühen Morgen zeigte die Sonne ihr schönstes Lächeln. Die Wetterfrösche quakten etwas von bis zu 29 °C. Ich saß mit meinem Schatzi Andrea am Frühstückstisch. Wir überlegten, wie wir den Tag verbringen würden. Während bei mir almählich die Abenteuerlust für Unruhe in den Füßen sorgte, bevorzugte Andrea einen gemütlichen Aufenthalt im Garten. Kurzum einigten wir uns darauf, dass jeder für sich seiner Vorliebe nachkommt.
Kaltes Quellwasser wo einst glühende Lava floss
Wieder mal zog es mich zum Wandern an die Nidda. Ich schnappte mir meine Ausrüstung und fuhr schnurstracks in den Vogelsberg. In Rudingshain angekommen, parkte ich auf einem versteckten Waldparkplatz. Ich stieg aus dem Auto und streckte erst mal meine Arme in den Himmel, als wolle ich das Blätterdach der alten Buchen kraulen. Die Vögel zwitscherten und nur wenige Meter von mir entfernt, säuselte die Nidda. Die würzig duftende Waldluft kroch mir in die Nase. Ich atmete einige Male tief durch und ließ die ersten Eindrücke auf mich wirken. Gerade wollte ich meinen Rucksack schultern, da stürzte sich aus heiterem Himmel das »Fliegende Empfangskomitee« auf mich.
Die Bremsen, eine energische Stechfliegenart, deren Stiche unangenehm jucken, hatten es auf mein Blut abgesehen. Wie ein Karatekämpfer, der eine Horde Vampire in die Flucht schlägt, fuchtelte ich wild um mich. Nachdem die Plagegeister vertrieben waren, hüllte ich mich in eine Wolke aus Mückenschutzspray. Mit Erfolg, das Spray verdarb den hungrigen Insekten den Appetit am Wandersmann. Froh gelaunt begann ich meine Wanderung bergauf zur Niddaquelle.
Bereits nach wenigen Hundert Metern kreuzte der Schotterweg die Nidda über eine alte Brücke aus gemauerten Bruchsteinen. Ich nutzte die Gelegenheit, um mir einen Überblick auf den Bachlauf zu verschaffen. Der Wasserstand war niedriger als erhofft. Abgelagertes Schwemmholz bildete kleine Staustufen, in denen sich das klare Wasser sammelte. Andernorts plätscherte die Nidda die moosbehangenen Basaltfelsen hinunter. Einen Moment lang hielt ich noch Ausschau nach Fotomotiven, dann ging ich weiter.
Eintauchen in die Wildnis
Zu meiner linken Seite ein natürlicher Bergbach, zu meiner Rechten ein urwüchsiger Bannwald und dazwischen der staunende Wandersmann, den die Natur in seinen Bann zog. Ich lief in einem Naturwaldreservat in einem der niederschlagsreichsten Gebiete Hessens. Seit dem Jahr 1989 wurde das Waldgebiet nicht mehr forstwirtschaftlich genutzt. Deshalb konnte sich im rauen Berglandklima über Jahrzehnte hinweg ein natürlicher Lebensraum entwickeln. Alte Rotbuchen, Eschen und Berg-Ahorne unterliegen dem natürlichen Lebenszyklus. Bäume, die umstürzten, blieben kreuz und quer im dichten Unterholz liegen. Ihr Totholz bildete die Lebensgrundlage für zahlreiche Insekten, Pilze und eine artenreiche Bodenvegetation. Ich ging an riesigen Douglasien vorbei, bevor ich die Nidda an einer Weggabelung verließ.
Der Tod ist der Beginn von etwas Neuem
Der steil ansteigende Weg führte mich zu einem Fichtenforst oberhalb des Bannwaldes. Hier standen abgestorbene Fichten der Reihe nach wie Gedenksteine auf einem Friedhof. Es war ein trauriger Anblick, doch als ich genauer hinschaute, erkannte ich, dass am Fuße der toten Nadelbäume ein junger, facettenreicher Mischwald heranwächst. Durch die abgestorbenen Fichten gelangte mehr Niederschlag und Sonnenlicht auf den Waldboden. Das kahle Astwerk bot gerade noch genug Schatten, dass sich der Waldboden nicht zu stark aufheizen konnte. Die toten Wurzeln schützten den Boden weiterhin vor der Erosion. Folglich entstanden neue Lebensbedingungen, die viele Pionierpflanzen und Pilze für die Besiedelung nutzen.
Auch im Fichtenforst gelten die Naturgesetze.
Mein nächstes Etappenziel war der Gackerstein. Das ist eine langgezogene Erhebung vulkanischen Ursprungs auf 663 m NHN. Auf der Kuppe stand das hölzerne Gipfelkreuz mit der treffenden Aufschrift: „Dem Himmel so nah“. Ich nutzte die nebenstehende Sitzbank für eine kurze Rast. Vom Gackerstein konnte ich die herrliche Aussicht auf die Vogelsberger Landschaft genießen. Ich sah hinüber zum »Hoherodskopf« mit dem markanten Funkturm und den gutbesuchten Gaststätten. In die andere Richtung schaute ich über die Skyline von Frankfurt am Main bis zu den Höhenzügen des Taunus. Ich dachte an den ganzen Trubel in der Großstadt und wie gut ich es hier auf der Anhöhe getroffen hatte. Für nichts in der Welt wollte ich diesen besinnlichen Moment in der Natur eintauschen.
Der Hoherodskopf ist das beliebteste Ausflugsziel im Hohen Vogelsberg.
Sah ein Knab’ ein Röslein stehen
Ich setzte meine Wanderung fort, ging entlang blühender Wiesen mit duftenden Margeriten und anderen Wildblumen. Gespannt hielt ich Ausschau nach seltenen Insekten, denn die Krabbeltiere zählen zu meinen favorisierten Fotomotiven. Neben verschiedenen Schmetterlingsarten entdeckte ich Blattwespen, Bockkäfer, Rüsselkäfer und dergleichen. Eine Käferart war besonders häufig anzutreffen: der Gartenlaubkäfer. Es war seine Paarungszeit. Die liebestollen Käferchen flogen ziellos durch die Gegend. Mich nutzten einzelne Exemplare als Laufsteg für ihre Partnersuche. Dabei ließen sie sich gerne ein stückweit von mir tragen. Viele Käfer krabbelten paarweise oder in Gruppen auf den Pflanzen umher. Irgendwie ähnelte sie dabei den Menschen in einem Swingerklub.
Nachdem ich mir in den Bergwiesen eine Weile die Sonne auf das Deckhaar brutzeln ließ, bummelte ich weiter durch einen schattigen Buchenmischwald mit vielen entwurzelten Bäumen. Es folgte ein Waldstück mit alten Fichten, die erstaunlich gesund aussahen. Im Schatten der Bäume war es angenehm feucht und kühl. Das schätzten wohl auch die Wildschweine für ihr Schlammbad. Grund zur Annahme gaben einige gut besuchte Suhlen, welche die Borstentiere mit ihren kräftigen Rüsseln durchwühlt hatten. Zu guter Letzt erreichte ich den Waldrand unterhalb des Naturschutzgebietes »Oberes Niddatal und Forellenteiche«.
Spinatgrüne Feuchtwiesen voller Leben
Wow! Ich trat aus dem Wald heraus und stand begeistert vor einer spinatgrünen Feuchtwiese voller Leben. Sie war geschmückt mit der Farbenpracht unzähliger Blüten: Bach-Nelkenwurz, Kratzdistel, Storchschnabel, Teufelskralle, Trollblume, Wiesenglockenblume, Wiesenklee, Wiesenknöterich, Wiesen-Witwenblume und viele andere mehr. In den schattigen Bereichen wuchsen überwiegend feuchtigkeitsliebende Pflanzen. In den sonnigen Abschnitten fanden die wärmeliebenden Arten einen Lebensraum. Die Wiesen waren ein Schlaraffenland für Insekten und naturliebende Entdecker. Charles Darwin hätte sicher nicht weniger Freude daran empfunden, als ich es tat. Irgendwo durch diesen Mini-Dschungel schlängelte sich die junge Nidda als kleiner Wiesenbach. Apropos Nidda, beinahe vergaß ich mein Tagesziel.
Forellen und »Bettelkarpfen«
Denkst Du bei »Forellenteiche« auch an kristallklare Bergseen, in denen kapitale Forellen munter nach Insekten jagen? Falls ja, kannst du gleich wieder den Vorhang vor dein geistiges Auge ziehen. Die Forellenteiche wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts von pfiffigen Holzfällern als Flößerteiche für das Triften von Baumstämmen angelegt. Erst Jahre danach wurden sie als Fischteiche genutzt und später wieder aufgegeben. Heute sind es streng geschützte Biotope im Naturschutzgebiet. Sie sind durch die Nidda miteinander verbunden und liegen im oberen Bereich der Feuchtwiese.
Entlang des oberen Forellenteiches verläuft der beliebte Wanderweg »Vogelsberger Höhenrundweg«. Insofern waren dort mehr Spaziergänger unterwegs als auf meiner bisherigen Route. Die stattlichen Schuppenkarpfen im trüben Wasser wussten die Anwesenheit der Fußgänger sehr zu schätzen. Mit ihren weit aufgerissenen Mäulern schwammen sie schmatzend an der Oberfläche und ‚baten‘ um Leckereien. An der gegenüberliegenden Uferseite erstreckte sich ein lichter Nadelwald mit vorgelagerten Erlen und allerlei Buschwerk. Die Ufervegetation war geprägt vom dichten Bewuchs aus Schilf, Sumpfschwertlilie und Teich-Schachtelhalm, welcher weite Bereiche der Flachwasserzone vereinnahmte. Zahlreiche Libellen patrouillierten entlang der Ufer und überall summten die Insekten in den Wildblumen.
Das Geheimnis der Niddaquelle
Bislang zwang mich mein Entdeckergeist, die Wanderung im »Bummelmodus« zu verbringen. Das wollte ich fortan ändern. Auf dem Weg zur Niddaquelle verlief ein geschotterter Waldweg durch einen wenig interessanten Fichtenforst. Diese Gelegenheit nutzte ich, um schnellen Fußes voranzukommen. Ich ging so zügig, dass selbst der Kleine Däumling in den Siebenmeilenstiefeln schwerlich hätte folgen können? Schließlich näherte ich mich dem »Parkplatz Niddaquelle«, überquerte die Ringstraße und verschwand gleich wieder in den angrenzenden Mischwald. Meine Füße trugen mich vorbei an einem ausgedehnten Hochmoor. Linke Seite floss die Nidda als kleines Rinnsal. Kurze Zeit später erreichte ich eine hölzerne Schutzhütte, an der sich ein Schild mit der Aufschrift »Niddaquelle« befand.
Nun die Preisfrage: Trat an dieser Stelle der kleine Fluss tatsächlich aus der Erde? Die Antwort ist Nein. Einige Hundert Meter weiter stieß ich auf den »Landgrafenborn«. Dort sprudelte erstmals sichtbar ein kleiner Schwall Wasser aus einem kurzen Metallrohr. Doch auch das war nicht die Niddaquelle. Hinter dem Landgrafenborn erstreckte sich auf rund 720 m NHN eine weitere Hochmoorfläche. Dort lag das tatsächliche Quellgebiet der Nidda.
Nachdem ich mein Tagesziel erreicht hatte, wurde es Zeit für den Rückweg. Ich folgte zunächst dem Vogelsberger Höhenrundweg durch den urwüchsigen Wald, überquerte den Ellersbach und ging vorbei an der Breungeshainer Heide. Dann verließ ich den Wanderweg und folgte einem schmalen Pfad durch ein besonders schönes Waldstück.
Rückweg mit Hindernissen
Es dauerte nicht mehr lange, bis ich ein weiteres Mal die Forellenteiche erreichte. Wieder ging ich entlang der prächtigen Feuchtwiese und durch den Wald mit den Wildschweinsuhlen. Danach entschloss ich mich für eine alternative Route hinunter in den Ort Rudingshain. Allerdings versperrten mir mehrere umgestürzte Buchen den weiteren Weg. Ich wägte einen Moment die Optionen ab. Mich durch die Baumstämme zu beißen schien mir viel zu zeitaufwendig, also kletterte ich mit der Agilität eines Berggorillas über die Buchen hinweg. Wie ich vergnügt feststellen durfte, nutzte außer mir niemand den schmalen Pfad durch das Dickicht. Dadurch war ich nur von den Geräuschen des Waldes umgeben und konnte mich wunderbar mit der Natur verbinden.
Auf den letzten Kilometern bis zum Auto begegnete mir kein Mensch. Selbst die hungrigen Stechfliegen schienen sich anderen Opfern zuzuwenden. Nach mehreren Stunden Fußmarsch erreichte ich glücklich und zufrieden den Ausgangspunkt meiner naturnahen Wanderung. Ich setzte mich ins Auto und fuhr entspannt nach Hause, wo ich Andrea von meinem Abenteuer begeistert erzählte.